EIN-BLICK in das Nüdlinger Gemeindearchiv

 Der Begriff  Gemeindearchiv hört sich für Laien tröge an, den Historiker*innen aber verursacht es ein gewisses Herzklopfen, denn dort gibt es Geschichte im Livestream, sozusagen.

Das Wort „Archiv“ kommt vom lateinischen „Archivum“ und bedeutet Aktenschrank,  das griechische Wort „Archeion“ bezeichnet ein Amtsgebäude. Wörter, die dem Laien auch nicht unbedingt Lust auf „mehr“ machen.  Ein Archiv bildet das kulturelle, historische sowie das rechtlich-administrative Gedächtnis eines Staates, einer Region, einer Kommune  oder einer Privatperson. So lautet die Definition.

Im Grunde ist ein Archiv eine Datenbank zum Anfassen. Datenbank klingt spannender. Manche behaupten, im 21. Jahrhundert seien Daten das Lebenselixier schlechthin –  für Wirtschaft, Politik, Kultur, etc. Wenn man darüber nachdenkt, mit welcher Leichtigkeit  inzwischen Daten erfasst werden (können) und in welcher Menge und Geschwindigkeit sie ausgewertet und auch verkauft  werden (können), dann fragt man sich selbst als Laie, welchen Lauf die Geschichte in all ihren Bereichen genommen hätte, wären frühere Generationen und Herrscher*innen auch dazu in der Lage gewesen.

Der neonhelle Keller im Nüdlinger Rathaus mit seinen pragmatischen Metallregalen, in dem sich das Archiv der Gemeinde befindet, wirkt auf den ersten Blick nicht heimeliger als jeder andere Lagerraum. Selten verirrt sich einer dorthin. Kein Wunder, es riecht nach altem Papier und Staub. Es ist still wie in einer Gruft. Schnell werden dort Akten abgelegt oder herausgesucht und dann verlässt man es wieder. Doch hier lagert eine „gesammelte“ Geschichte des Dorfes, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Der Brand des Pfarrhofes 1669 vernichtete ein Großteil der Dokumente unwiederbringlich, sammelten doch früher in erster Linie Klöster und Pfarrämter die Daten ihrer Zeit. Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Todesursachen. Drei Pfarrbücher „überlebten“, so dass die Zeit von 1619 bis 1953 nahezu lückenlos dokumentiert ist.

Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man auch im heutigen Rathauskeller so manche Preziose aus vergangenen Zeiten. Zum Beispiel ein Schatzungsbuch (Steuerabgaben) aus dem Jahr 1795 mit fein säuberlich von unbekannter Hand geschriebene Namenslisten längst Verstorbener und Vergessener. Ebenso das Dorfbuch Haard, das Aufzeichnungen von 1589 bis 1870 enthält. Hält man so ein altes Original-Werk in Händen, kann man nicht anders, als es mit Ehrfurcht aufschlagen und man fragt sich dabei, wann das wohl zum letzten Mal geschehen ist. Vor hundert Jahren? Vor zweihundert Jahren? Vieles kann wahrscheinlich nur noch ein Historiker lesen, weil dem heutigen Laien das Schriftbild völlig fremd geworden ist. Doch gerade das lässt manche dieser Bücher ja erst geheimnisvoll erscheinen, macht sie zu lebendigen Wesen, die uns Geschichte und Geschichten erzählen wollen.

Neben Handschriftlichem sind auch leichter lesbare Druckwerke im Archiv vertreten. Pläne alter Bauvorhaben, Reichsgesetzblätter, Ministerialblätter, Amtsblätter, goldgeprägte Bürgerliche Gesetzbücher, eine Ausgabe von Verwaltungsgesetzen in Jugendstilornamentik, nüchterne Ausgaben aus dem 20. Jahrhundert.

Die alten Werke schlummern still vor sich hin, bis jemand mehr oder weniger zufällig auf sie stößt, der sie für einen Augenblick zum Leben erweckt. Aber sie sind da und ihre Geduld scheint grenzenlos. Wie sonst wüssten wir, dass etwas vor uns war und demzufolge auch nach uns etwas sein wird? Sicher ist jedenfalls, dass Geschichte kein abstrakter Begriff ist, sondern erst durch Geschichten von und über Menschen entsteht – schönen wie hässlichen Geschichten.

„Jeder möge sein eigener Geschichtsschreiber sein, dann wird er sorgfältiger und anspruchsvoller leben“, sagt Bertolt Brecht und man möchte ja so gerne daran glauben…

(Text: Hubert Ziegler, Gemeindebücherei Nüdlingen)