Das Rathaus – Nüdlingens Stolz mit einer Prise Salz in der Wunde

Am 10. Mai 1933 verbrannte man auf dem Berliner Opernplatz Bücher „wider den undeutschen Geist“ und trieb damit namhafte deutsche Autor*innen in die Emigration. Am selben Abend war man auch in Nüdlingen in Sachen nationaler Erhebung nicht untätig. Reichspräsident von Hindenburg und der frische Reichskanzler Hitler wurden zu Ehrenbürgern ernannt und mit Straßenamen geehrt. Jugendliche unter 20 und alle „Kommunistenverdächtige“ durften den öffentlichen Sitzungen des Gemeinderates nicht mehr beiwohnen.

Nationalsozialistische Parteigenossen wollten noch mehr Straßen nach sogenannten „nationalen Führern“ umbenennen, doch das scheiterte an konservativen Gemeinderäten. Doch dann folgten die Auflösungen der Sozialdemokraten und der Bayerischen Volkspartei, alle nicht-nationalsozialistischen Gemeinderäte verloren ihre Ämter und übrig blieb nur ein einziger Nationalsozialist. Die NSDAP Kreisleitung setzte daraufhin  einen regimetreuen Gemeinderat ein.  Von einem Einverständnis der Nüdlinger Bevölkerung zu den Beschlüssen des neuen Gemeinderates konnte also keine Rede sein.

Wie  das Beitragsbild oben zeigt, war das Anwesen, das als Gemeindehaus bezeichnet wird, nicht gerade „national erhebend“ . In einem Protokoll von 1935  wird es sogar als „verunstaltend“.  bezeichnet. Darin wohnten drei Arbeiterfamilien mit ihren Kindern und der gemeindliche Bullenstall war ebenfalls dort untergebracht. Die Gemeindekanzlei dagegen befand sich in einem Raum in der Alten Schule.

1938 beschloss der „nationalsozialistische“ Gemeinderat den Bau eines neuen Rathauses.

Der Entwurf des Architekten Haub aus Würzburg mit Schulküche und Schulturnsaal wirkte eher wie eine großbürgerliche Villa. Aus den alten Kostenvoranschlägen geht hervor, dass dieser Entwurf knapp 56 000 Reichsmark beansprucht hätte.

Vielleicht war das der Grund, warum man sich für den klar strukturierten Bau des Architekten Probst aus Bad Kissingen entschied. Eine zweckmäßige Architektur ganz im Stil der damaligen Zeit. Außerdem mochten die Nazis keine Großbürger –  zu intellektuell, zu reich, zu schlau, vielleicht sogar irgendwie zu jüdisch? Architekt Probst plante ein Bad für die Bevölkerung im Untergeschoss mit ein. Fließendes Wasser im Haus – damals auf dem Land kein Standard. Ein Bad schon gar nicht. Es sollte der „Volksgesundheit“ Vorschub leisten.

Die Bauarbeiten des neune Nüdlinger Rathauses wurden alle an Nüdlinger Firmen vergeben. Die schon im Plan sichtbare Statue des Schnittheppers, des Wahrzeichen Nüdlingens,  stammt vom Bad Kissinger Bildhauer Metz. Der Bau wurde durch eine Entschädigung des Staates ermöglicht. Man brauchte Wald für die Muna in Rottershausen. Nüdlingen erhielt für 65 Hektar 246 000 Reichsmark. Allerdings wurden für das Rathaus nur 100 000 Reichsmark verbraucht.

Hier ein paar Eindrücke von der Bauphase und womöglich von der Einweihung:

   

 

Die Infiltration der Jugend stand auf der Liste der Nationalsozialisten weit oben. Also investierte man in Nüdlingen 24 000 Reichsmark in ein Heim der Hitler-Jugend am Wurmerich, inklusive eines Appellplatzes. Der Entwurf stammt vom Architekten Moldenhauer aus Würzburg und beinhaltet Versammlungsräume, Toiletten und eine Wohnung für den Hauswart. Nach dem Dritten Reich richtete man im Gebäude Sozialwohnungen ein.  Das marode Gebäude wurde vor zwei Jahren abgerissen. Inzwischen stehen auf dem Grundstück moderne Sozialwohnungen.

Schon 1939 war Nüdlingen ein begehrter Wohnort mit guter Infrastruktur. Man erstellte einen Bebauungsplan für eine Wohnsiedlung für etwa 30 Bauwillige. Es blieb allerdings bei den Plänen. 1939 zählte Nüdlingen 1903 Einwohner, mit 317 Wohngebäuden. 40% der Bewohner arbeiteten in der Landwirtschaft, 50% waren Bauarbeiter, 10% Handwerker und Staatsbedienstete. Es gab 5 Bierwirtschaften, 1 Weinwirtschaft, 3 Bäckereien, 3 Metzgereien, 5 Gemischt- und Kolonialwarenhandlungen, 1 Postagentur. Nicht nur heute ist Nüdlingen ein Ort, in dem man alles findet, was man zu Leben braucht. Die Kolonialwaren-Handlung Hein war Nachbarin des Rathauses. Für den Anbau des Rathauses wurde sie 2009 abgerissen. Die Bilder stammen aus der Zeit des Dritten Reiches.

Das Rathaus wurde über die Jahrzehnte immer wieder modernisiert und den Erfordernissen der Verwaltung angepasst. Heute, im Jahr 2022, präsentiert es sich offen und modern. Im Anbau von 2011 sind Gemeindebücherei, Büros und eine Sparkassenfiliale untergebracht. An das Dritte Reich denkt wohl kaum noch jemand, der das Rathaus betritt. Doch wer genau hinschaut, dem entgehen die Reste seiner nationalsozialistischen Geburtsstunde nicht.  In den Bleiglasfenstern des Sitzungssaales sind neben anderen historischen Motiven und Wappen noch immer ein SA-Mann und einer vom Reichs-Arbeitsdienst zu erkennen. Daneben wirf ein blond-bezopftes BDM-Mädel einen Ball und ein Hitlerjunge schlägt furchtlos die Trommel.

Genau hinschauen und genau hinhören,  das gerät heute, wo die meisten Zeitzeugen des Dritten Reiches gestorben sind, ins Abseits. Bei dem Bild mit der Trommel denkt man unwillkürlich an das berühmte Gedicht von Heinrich Heine. „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht…“ Der geborene deutsche Jude Heine, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Journalisten bekämpfte zeitlebens Altbackenes mit scharfer Zunge, vor allem undemokratische Zustände in Deutschland und Europa. Ob den Nationalsozialisten bewusst war, dass ihre Metapher vom furchtlosen Deutschen von einem gebürtigen Juden promotet wurde? Vielleicht kann man es als Ironie der Geschichte bezeichnen. Ironie muss man aushalten und Geschichte auch. Sie kann eben nicht zurückgedreht werden.

(Text: Hubert Ziegler, Gemeindebücherei, Bilder: Gemeindearchiv, abfotografiert vom Verfasser)